- Arabellion
- Was vom Frühling bleibt
- Tunesien
- Libyen
- Ägypten
- Jordanien
- Karte
- Kommentare
Ibrahim Mohamed Ghazal
Es erschien am 26. April 2011 in unserer Zeitung
Das Bild zeigt Proteste vor der syrischen Botschaft in Amman, Jordanien. Ibrahim Mohamed Ghazal (Foto) ist auf der Aufnahme der Dritte von rechts. Der jordanische dpa- Fotograf Jamal Nasrallah (48) über das Bild: „Es wird nicht so oft in internationalen Medien über Jordanien berichtet. Es ist meist recht ruhig in unserem Land. Als 1999 König Hussein starb und er wenig später beerdigt wurde, da kamen Fotografen aus der ganzen Welt. Zuletzt wurde viel aus den Flüchtlingslagern im Norden des Landes berichtet. Auch bei uns hat sich die Arbeit für Fotografen verändert. Viele Leute haben ja inzwischen selbst Kameras und Fotohandys. Kaum drück ich auf den Auslöser, schon stellen sich ein paar Leute in mein Sichtfeld. Die Proteste an der Botschaft waren damals relativ neu. Ich glaube, es war das dritte Mal, dass sie dort zusammengekommen sind. Sie hatten Leintücher gestopft und beschriftet. Die „Kinder von Homs“ und die „Kinder von Daraa“ stand darauf. Die Leintücher sollen wie Leichentücher aussehen. Es waren zu Beginn nicht so viele Demonstranten, aber es wurden im Laufe des Krieges mehr. Sie sind eigentlich immer dort, wenn das Wetter gut ist. Aber sie werden nicht mehr so oft fotografiert.“
Er ist nicht jemand, der seine Wut hinausschreit. Er tanzt auch nicht wie die anderen, die jetzt die Arme auf die Schultern gelegt haben und die Lieder der Revolution singen. Er ist einfach nur da.
Jeden Freitag steht Ibrahim Mohamed Ghazal, 53, vor der Botschaft Syriens im jordanischen Amman. Er trägt ein altes abgewetztes graugrünes Sakko. Sein Bart und seine Haare sind hennarot gefärbt. Nie ist er allein mit seinem Protest. Heute sind es vielleicht 300, die gegen den Krieg im Nachbarland protestieren. Es sind wieder ein paar mehr gekommen als in den vergangenen Wochen, in denen es eisig kalt war und für einen Tag lang sogar Schnee die Hügel der jordanischen Hauptstadt bedeckt hat. Sie schwenken Flaggen der Freien Syrischen Armee, einer hält einen Schirm im Schwarz-Grün der Opposition hoch, eine Tafel zeigt das Bild eines Adlers, der mit dem abgetrennten Kopf des syrischen Präsidenten Baschar el Assad davongleitet. Gleich wird ein Imam predigen, dann werden wütende Reden gehalten, und schließlich wird ein Rebell mit Krücken auf die Bühne humpeln und vom verzweifelten Kampf gegen das Regime berichten.
Ghazal ist Mitglied der Muslimbrüder. Er hat vor mehr als 30 Jahren selbst erlebt, wie brutal die Assads gegen das eigene Volk vorgehen. Die Islamisten standen damals in Verdacht, das alawitische Regime Hafiz Assads, dem Vater des heutigen Despoten, stürzen zu wollen. Der Machtkampf endete in einem unvorstellbaren Blutbad. Assad ließ die Stadt Hama wochenlang mit schwerer Artillerie beschießen, dann marschierten die Soldaten ein, zerrten die Verdächtigen aus den Häusern und ließen Hunderte hinrichten. Zehntausende Opfer soll das Massaker von Hama im Jahr 1982 gefordert haben, aber genau kann das heute niemand mehr sagen. Es drangen damals nur wenige Nachrichten nach draußen. Erst jetzt, wo auch Assads Sohn sein wahres Gesicht zeigt, erinnern sich immer mehr Chronisten an die Tage, an denen alles bereits vorgezeichnet war.
Ghazal floh damals nach Jordanien und kehrte nicht mehr zurück. Vor zwei Jahren, als der Bürgerkrieg begonnen hat, protestierte er das erste Mal vor der Botschaft. 60000 Opfer später demonstriert er immer noch. „Ich habe viele Freunde verloren“, sagt er, „ich werde so lange hier demonstrieren bis Assad geht.“
Die Gemeinschaft der Syrer in Jordanien wird mit jedem Tag größer. Fast eine halbe Million Menschen sind in das sichere Nachbarland geflüchtet. Das Land hat längst die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht. Jordanien ist arm an Bodenschätzen, Wasser ist ein ständiger Mangel, die Regierung lebt seit jeher von Finanzmitteln aus dem Ausland. Allein im vergangenen Jahr wurde das Königreich mit 2,48 Milliarden US-Dollar unterstützt, ein Viertel davon stammt aus den USA. Eigentlich hat kaum ein Land der Region so viel Erfahrung mit Flüchtlingsströmen wie Jordanien. Jeder zweite Bewohner hat palästinensische Wurzeln, Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Nachbarland Irak fanden hier Schutz. Doch diesmal kommt noch etwas dazu. Seit Beginn des Arabischen Frühlings gärt die Unzufriedenheit auch in diesem Land.
Die jordanische Rechtsanwaltskammer tagt in einem Bürokomplex im Bezirk Shmesani. Rechtsanwalt Assem el Omari kommt spät, den schwarzen Wintermantel halb aufgeknöpft, eine Sonnenbrille steckt im grauen Haar. Die Juristen stecken mitten in einer Diskussion. Es geht darum, dass Demonstranten vom Militärgericht verurteilt werden können. Ein Unding, klagen viele Anwälte.
El Omari setzt sich in die äußere Stuhlreihe. Er hält es nicht lange auf seinem Platz aus, geht wieder vor die Tür, zündet eine Zigarette an und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. „Der König ist unter Druck wie noch nie“, sagt er.
Eigentlich wird in Jordanien bereits seit Beginn des Arabischen Frühlings demonstriert. Die Bevölkerung protestiert gegen die steigenden Lebenskosten, die Arbeitslosigkeit, die bei rund 30 Prozent liegen soll, und die Korruption in dem Land. Es sind im Grunde die Forderungen der arabischen Revolution. Nur in einem Punkt unterschieden sie sich: Während die Tunesier Ben Ali aus dem Land jagen wollten und in Libyen die Demonstranten das Ende Gaddafis forderten, hielten die Jordanier bisher zu ihrem König und forderten einzig Reformen.
König Abdullah II. lenkte tatsächlich ein. Gleich viermal entließ er seine Premierminister, dann senkte er die Zinssätze für Privatkredite, änderte das Wahlgesetz und setzte Kommissionen ein, die Wege für mehr Mitbestimmung erarbeiten sollten. Es sah eine Zeit lang tatsächlich so aus, als ob der Monarch die arabische Revolution ohne Machtverlust überstehen könnte.
Doch die Unruhen in der arabischen Welt haben Jordaniens Wirtschaft weiter geschwächt. In weniger als zwei Jahren sanken die Devisenreserven des Landes um fast die Hälfte auf 7 Milliarden US-Dollar. Das Haushaltsdefizit wuchs auf 5 Milliarden US-Dollar. Im Herbst kündigte Abdullah II. an, einen großen Teil der Subventionen auf Gas, Strom und Lebensmittel zu streichen. Die Folgen für die Bevölkerung waren massiv. Die Preise für das Kochgas stiegen um die Hälfte, Diesel und Kerosin verteuerten sich um 33 Prozent. Als im November 2011 mehr als 10000 Menschen auf die Straßen gingen, ereignete sich das Unvorstellbare. Jetzt riefen die Demonstranten nicht mehr nach Reformen. Nun wollten sie den Sturz des Monarchen. Es war ein Tabubruch in dem Land.
»Entweder der König ändert sich.
Oder das Volk ändert den König.«
Anwalt Assem el Omari
Es brodelt in dem Land, man kann das in Shmesani ganz gut spüren. „Entweder der König ändert sich. Oder das Volk ändert den König“, sagt El Omari. Ein Anwaltskollege stellt sich auf dem Flur kurz zu El Omari und erzählt von einer Veranstaltung, die er vor wenigen Tagen moderierte. Nachdem ein Zuhörer eine königskritische Frage stellte, wurde er, der Diskussionsleiter, beschimpft, wie er so eine Frage überhaupt zulassen konnte. Später soll er von Königstreuen im Auto verfolgt worden sein. „Es wird immer schlimmer in diesem Land“, sagt er, schüttelt den Kopf und geht dann weiter.
Rechtsanwalt El Omari sagt, dass die Reformen des Königs im Grunde nur kosmetischer Natur waren. Er erklärt das am Beispiel des neuen Verfassungsgerichtes. Abdullah II. hat im Oktober erstmals ein Gericht zugelassen, das die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen soll. „Eigentlich eine gute Sache“, sagt El Omari. Dann ging es um die Zusammensetzung des Gremiums. Abdullah II. suchte eigenmächtig die Richter aus. „Das zeigt, was der König unter einer unabhängigen Justiz versteht.“
Natürlich sind nicht alle Anwälte in der Kammer gegen den König. Da ist der frühere Justiz- und Außenminister Sallah el Bashir, der sich in der nächsten Zigarettenpause zu El Omar stellt und lacht: „Ach, in Jordanien wird es niemals eine Revolution geben“, sagt er. „Wir reformieren das Land, wir arbeiten hart.“ Oder Mohamed el Musa. Als Professor für Menschenrechte stellt er sich vor: „Wir brauchen keine politische Revolution, wir brauchen eine Revolution in den Köpfen.“ Jordanien sei nicht reif für eine Rebellion, so wie keines der arabischen Länder bereit für diesen Umbruch war, weil die Revolution zuerst in den Köpfen stattfinden müsse. Er sagt: „Hegel, Kant, das waren die Menschen, die den Weg für Revolutionen in Europa bereitet haben. Solche Denker haben wir aber hier nicht.“
El Omari glaubt trotzdem an Veränderungen. Die Monarchie wird seit jeher von loyalen Stämmen gestützt. Der König entstammt dem Haschemitischen Herrscherhaus aus Saudi-Arabien. Er gehört selbst keiner der reichen und einflussreichen Stammesfamilien an. Viele sagen, dass gerade diese Unabhängigkeit der Grund für die bisherige Nibelungentreue der Stämme war. Doch die Unterstützung bröckelt. Junge Jordanier engagieren sich in der oppositionellen Hirak-Bewegung. „Immer mehr Stämme sagen sich vom König los“, sagt El Omari. Und dann sind da noch die Muslimbrüder. Sie sind die stärkste und bestorganisierte Oppositionsbewegung. Noch halten sie dem König die Treue – aber es ist eine Treue auf Bewährung.
Wenn man Ghaith el Qudah, 42, fragt, was denn die Muslimbrüder so stark macht, dann fängt er zunächst einmal an zu zeichnen. Er malt einen Kreis auf ein Blatt Papier, zuerst einen, dann noch einen und noch einen, bis sich alle überschneiden, bis sie am Ende alle miteinander verbunden sind. Die Kreise sollen die Gruppen der Muslimbrüder in Jordanien zeigen. „Wir können 30000 Menschen auf die Straße bringen“, sagt El Qudah. „Wir können das hier alles ziemlich groß machen.“
El Qudah sitzt in seinem Geschäft für Sanitärhandel in Khalda, einem Bezirk von Amman. In den Ausstellungsräumen stehen Whirlpools, Jacuzzis und künstliche Wasserfälle. Er ist der Vorsitzende der Jugendorganisation der Islamic Action Front, des politischen Arms der Muslimbrüder.
Die einst in vielen Ländern verfolgten Islamisten sind seit dem Arabischen Frühling im Aufwind. In Ägypten und Tunesien haben sie jetzt Regierungsverantwortung, in Syrien kämpfen sie an der Seite der Opposition und auch in Jordanien werden sie immer selbstbewusster.
Es sind die Tage vor den Neuwahlen, morgen soll es noch einmal zu Protesten kommen, dann wird Jordanien eine neue Regierung wählen, aber es wird nur wenige wirklich interessieren. Denn der König behält die Macht. Die Muslimbrüder haben zum Boykott der Wahl aufgerufen. „Das sind nicht die Reformen, die wir uns erwartet haben“, sagt El Qudah. Einer der wichtigsten Kritikpunkte ist das neue Wahlgesetz. Das Wahlsystem wurde 1993 nach dem Friedensabkommen mit Israel eingeführt. Es sollte die Islamisten zurückdrängen und fördert die Wahl unabhängiger Kandidaten, also von Stammesmitgliedern. Nach den Protesten wurde das Wahlgesetz geändert. „Es dient immer noch dem Stammesdenken“, kritisiert El Qudah. Nur ein kleiner Teil der Parlamentssitze ist für politische Parteien reserviert. „Wir möchten aber Politiker wählen, die für eine Partei stehen“, sagt er.
Aber jetzt scheint sich etwas in dem Land zu verändern. El Qudah arbeitet viel mit Jugendlichen. Ihm ist aufgefallen, dass die neue Generation anders denkt als er. „Die jungen Menschen sind nicht mehr so obrigkeitshörig, wie wir es noch waren“, sagt er. Auch bei den Muslimbrüdern seien die lokalen Führer längst nicht mehr unangreifbar. „Die jungen Menschen wollen Politik machen“, sagt er, „sie wollen mitentscheiden.“
El Qudahs Vorbild sind die parlamentarischen Monarchien, wie es sie in Schweden oder Spanien gibt. Ein König, so findet er, sollte repräsentative Aufgaben haben. „Das Volk muss die Quelle aller Macht sein.“ Die Muslimbrüder, so sagt es zumindest El Qudah, wollen diese Veränderung friedlich herbeiführen. Sie wollen gar keinen Umsturz. „Eine Revolution ist wie ein gebrochener Stock, Sie können es nicht rückgängig machen.“
In Syrien kann man gerade sehen, was geschehen kann. Von El Qudahs Büro bis ins Flüchtlingscamp Zaatari im Norden Jordaniens sind es kaum 70 Kilometer.
60 000 Menschen leben hier. Man sagt, Zaataari ist inzwischen die viertgrößte Stadt des Landes. In der Stadt gibt es eine Einkaufsstraße, Süßigkeiten, Linsen und Mehl werden verkauft, Brotfladen werden an den Ständen gebacken. Ein Mann wärmt sich an einem Ofen. Ein kleiner Junge geht durch das Camp. Er trägt schwarze fingerfreie Handschuhe. Er bleibt kurz stehen, reibt die Hände aneinander. Es war kalt in den vergangenen Tagen, ein Schneesturm ist über das Lager gefegt und hat Hunderte Zelte zerstört.
1763 Flüchtlinge haben am vergangenen Tag die Grenze nach Jordanien überquert. Es ist ein neuer Rekord, der nur wenige Tage halten wird. Es werden danach mehr als 2000 sein, weil das Wetter besser wird und die Kämpfe härter. Sie kommen oft zu Fuß, auf Sandalen, mit dem, was sie tragen konnten. Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks sagen, dass sie selten in ihrem Leben solch verletzliche Menschen gesehen haben.
Ein Foto als Warnung an
den Despoten Baschar el Assad
Yousef Mohammed el Abdin ist erst seit wenigen Tagen im Flüchtlingslager. Ein Trupp Soldaten stand plötzlich vor seiner Haustür in Tasil in der Provinz Daraa. Er hat nicht verstanden, worum es geht. Aber sie nahmen ihn mit, und erst in der Kaserne stellte sich heraus, dass sie einen anderen El Abdin suchten. Aber es war für ihn ein Zeichen, dass er das Land verlassen sollte.
Wenig später flüchtete El Abdin mit seiner Frau und den drei Kindern über die Grenze. Sie haben in Zaataari einen der begehrten Container zugewiesen bekommen, in denen man sich besser vor der Kälte und der Hitze schützen kann. Sie wissen trotzdem nicht, ob die Flucht die richtige Entscheidung war. „Es ist nicht gut hier“, sagt El Abdin. Es sei kalt und feucht, der jüngste Sohn ständig krank. Seine Frau wollte eigentlich zurück. Sie hatten schon gepackt, und El Abdin hatte die Lieder der Freien Syrischen Armee auf seinem Handy sicherheitshalber gelöscht. Aber dann haben sie sich doch nicht getraut.
»Ich möchte, dass Baschar das sieht.
Er soll wissen, dass hier Yousef Mohammed el Abdin
in Zaatari auf ihn wartet.«
Yousef Mohammed el Abdin
Was ihn auf der anderen Seite der Grenze erwarten würde, sieht El Abdin nur ein paar Container weiter. In der Mitte des Raums flackert ein Gasbrenner. Eine alte Frau kauert vor dem Gaskocher und weint. „Nachbarn haben meinen Sohn verraten“, sagt sie. Aber ihr Sohn sei in Syrien geblieben, tapfer, wie er ist, und habe sich verteidigt bis zum Schluss. Gestern hat sie den Anruf erhalten, dass ihr Sohn nicht mehr am Leben ist. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter den Handflächen. Die Tür geht auf, Besucher aus dem Lager sprechen ihr Mut zu. Tee wird gereicht. Aber sie will nicht trinken. Sie weint. Dann steht El Abdin plötzlich auf. Er bindet sich seinen Baumwollschal um die Stirn, als würde er in den Krieg ziehen. „Macht ein Foto von mir“, ruft er, und als keiner reagiert, sagt er es noch einmal. „Ein Foto. Ich möchte, dass Baschar das sieht. Er soll wissen, dass hier Yousef Mohammed el Abdin in Zaatari auf ihn wartet.“ Er steht jetzt mitten im Raum. Den Schal um die Stirn gebunden. Die alte Frau weint. Draußen pfeift der Wind über den Sand. Der Frühling hat hier noch nicht begonnen.